Geschichten, die mir viel bedeuten...
Ist nicht alles umsonst?
Am Rande der Wüste lebte ein Eremit. Eines Tages besuchte ihn ein Jüngling und klagte ihm sein Leid. „Ich lese so viel heilige Texte", sagte er. „Ich studiere in den Büchern und vertiefe mich in die Schönheit der Worte. Ich möchte sie behalten und als einen Widerschein der ewigen Wahrheit in mir bewahren. Aber es gelingt mir nicht. Alles vergesse ich! Ist die mühevolle Arbeit des Lesens und Studierens umsonst?" Der Eremit hörte ihm gut zu. Als er fertig war mit dem Sprechen, gab er ihm einen Binsenkorb. „Hol mir aus dem Brunnen dort drüben Wasser", sagte er zu dem Jüngling. „Hat er meine Frage nicht verstanden?" fragte sich dieser. Widerwillig nahm er den vom Staub verschmutzten Korb auf und schöpfte Wasser, das längst herausgelaufen war, als er zurückkehrte. „Geh noch einmal", sagte der Eremit. Der junge Mann gehorchte. Immer wieder füllte er Wasser in den Korb, immer wieder rann es zu Boden. Nach dem zehnten Mal konnte er aufhören. „Sieh den Korb an", sagte der Eremit. „Er ist ganz blank geworden. So geht es dir mit den Worten, die du liest und bedenkst. Du kannst sie nicht festhalten, sie gehen durch dich hindurch, und du hältst die Mühe für vergeblich. Aber, ohne dass du es merkst, klären sich deine Gedanken und machen dein Herz rein."
aus: Barbara und Hans Hug, „Blätter, die uns durch das Jahr begleiten", Kreuz Verlag
Du hast Recht!
Zwei Schüler eines alten Meisters hatten eine Auseinandersetzung über den wahren Weg zu Gott. Der eine war der Meinung, dieser Weg sei eine Frage von Mühsal und Kraft. „Du musst dich selbst ganz und gar und mit aller Mühe dem Weg des Gesetzes verpflichten!" meinte er. Der andere bestritt dies. „Es geht überhaupt nicht um Anstrengung. Das würde nur das Ego unterstützen. Nein, es ist reine Hingabe: Nicht mein Wille geschehe, sondern der deinige." Keiner konnte den anderen von der Richtigkeit der eigenen Sichtweise überzeugen, und so gingen sie zu ihrem Meister. Dieser hörte zu als der erste Schüler den Weg der Mühe aus vollem Herzen pries, und als der Schüler ihn fragte, ob dies der rechte Weg sei, antwortetet der Meister: „Du hast Recht!" Der zweite Schüler war sehr aufgebracht und reagierte mit einer redegewandten Rechtfertigung des Weges der Hingabe und des Loslassens. Als er mit der Frage: „Ist dies nicht der wahre Weg?" seinen Vortrag beendete, antwortete der Meister: „Du hast Recht!" Ein dritter Schüler, der dabeisaß, meinte: „Aber Meister, sie können doch unmöglich beide Recht haben?!" Der Meister lächelte und sagte: „Du hast Recht!"
aus: Tales of The Hasidim
Lehrerin und Schüler
Eines Tages bat eine Lehrerin ihre Schüler, die Namen aller anderen Schülerin der Klasse auf ein Blatt Papier zu schreiben und ein wenig Platz neben den Namen zu lassen. Dann sagte sie zu den Schülern, sie sollten überlegen, was das Netteste ist, das sie über jeden ihrer Klassenkameraden sagen können und das sollten sie neben die Namen schreiben. Es dauerte die ganze Stunde, bis jeder fertig war und bevor sie den Klassenraum verließen, gaben sie Ihre Blätter der Lehrerin.
Am Wochenende schrieb die Lehrerin jeden Schülernamen auf ein Blatt Papier und daneben die Liste der netten Bemerkungen, die ihre Mitschüler über den Einzelnen aufgeschrieben hatten. Am Montag gab sie jedem Schüler seine oder ihre Liste. Schon nach kurzer Zeit lächelten alle. "Wirklich?", hörte man flüstern. "Ich wusste gar nicht, dass ich irgendjemandem was bedeute!" und "Ich wusste nicht, dass mich andere so mögen", waren die Kommentare. Niemand erwähnte danach die Listen wieder. Die Lehrerin wusste nicht, ob die Schüler sie untereinander oder mit ihren Eltern diskutiert hatten, aber das machte nichts aus. Die Übung hatte ihren Zweck erfüllt. Die Schüler waren glücklich mit sich und mit den anderen.
Einige Jahre später war einer der Schüler gestorben und die Lehrerin ging zum Begräbnis dieses Schülers. Die Kirche war überfüllt mit vielen Freunden. Einer nach dem anderen, der den jungen Mann geliebt oder gekannt hatte, ging am Sarg vorbei und erwies ihm die letzte Ehre. Die Lehrerin ging als letzte und betete vor dem Sarg. Als sie dort stand, sagte einer der Anwesenden, die den Sarg trugen, zu ihr: "Waren Sie Marks Mathelehrerin?" Sie nickte: "Ja". Dann sagte er: "Mark hat sehr oft von Ihnen gesprochen."
Nach dem Begräbnis waren die meisten von Marks früheren Schulfreunden versammelt. Marks Eltern waren auch da und sie warteten offenbar sehnsüchtig darauf, mit der Lehrerin zu sprechen. "Wir wollen Ihnen etwas zeigen", sagte der Vater und zog eine Geldbörse aus seiner Tasche. "Das wurde gefunden, als Mark verunglückt ist. Wir dachten, Sie würden es erkennen." Aus der Geldbörse zog er ein stark abgenutztes Blatt, das offensichtlich zusammengeklebt, viele Male gefaltet und auseinandergefaltet worden war. Die Lehrerin wusste ohne hinzusehen, dass dies eines der Blätter war, auf denen die netten Dinge standen, die seine Klassenkameraden über Mark geschrieben hatten. "Wir möchten Ihnen so sehr dafür danken, dass Sie das gemacht haben", sagte Marks Mutter. "Wie Sie
sehen können, hat Mark das sehr geschätzt." Alle früheren Schüler versammelten sich um die Lehrerin. Charlie lächelte ein bisschen und sagte: "Ich habe meine Liste auch noch. Sie ist in der obersten Schublade in meinem Schreibtisch". Die Frau von Heinz sagte: "Heinz bat mich, die Liste in unser Hochzeitsalbum zu kleben." "Ich habe meine auch noch", sagte Monika. "Sie ist in meinem Tagebuch." Dann griff Irene, eine andere Mitschülerin, in ihren Taschenkalender und zeigte ihre abgegriffene und ausgefranste Liste den anderen. "Ich trage sie immer bei mir", sagte Irene und meinte dann: "Ich glaube, wir haben alle die Listen aufbewahrt."
Die Lehrerin war so gerührt, dass sie sich setzen musste und weinte.
Betrunkener im Zug in Tokio
Der Zug ratterte an einem verschlafenen Frühlingsnachmittag durch die Vororte von Tokio. Unser Abteil war vergleichsweise leer - ein paar Hausfrauen mit ihren Kindern, einige alte Leute, die Einkaufen gingen. Geistesabwesend betrachtete ich die düsteren Häuser und staubigen Hecken. An der Haltestelle öffneten sich die Türen, und plötzlich wurde die Nachmittagsruhe von einem Mann gestört, der unverständliche Flüche brülle. Er stolperte in unser Abteil. Er war von kräftiger Gestalt, betrunken und schmutzig und trug Arbeiterkleidung. Brüllend holte er zum Schlag gegen eine Frau aus, die ein Baby im Arm hielt. Der Stoß schleuderte sie gegen ein sitzendes älteres Ehepaar. Es war ein Wunder, dass dem Baby nichts passierte. Entsetzt sprang das Ehepaar auf und hastete ans andere Ende des Wagens. Der betrunkene Arbeiter wollte der flüchtenden alten Frau noch einen Tritt verpassen, aber sie war ihm glücklicherweise schon entwischt. Dies machte ihn so wütend, dass er nach einer Haltestange in der Wagenmitte griff und versuchte, sie aus ihrer Verankerung herauszureißen. Ich konnte sehen, dass eine seiner Hände blutete. Der Zug ratterte voran, und die Passagiere waren starr vor Angst. Ich stand auf. Ich war damals noch jung, ungefähr zwanzig Jahre alt und in ziemlich guter Form. Ich hatte die letzten drei Jahre jeden Tag ungefähr acht Stunden mit Aikido-Training zugebracht. Die Würfe und Griffe brachten mir großen Spaß. Das Problem war, dass meine Fähigkeiten noch nie in einem echten Kampf erprobt worden waren. Aikido-Schüler durften nicht kämpfen.„Aikido" hatte mein Lehrer immer wieder gesagt, „ist die Kunst der Versöhnung. Wer Lust zum Kämpfen hat, hat seine Verbindung mit dem Universum abgebrochen. Wenn ihr versucht, andere Menschen zu beherrschen, seid ihr schon geschlagen. Wir lernen, wie man Konflikte löst, nicht wie man sie verursacht." Ich hatte ihm immer aufmerksam zugehört. Ich hab mir sehr viel Mühe. Ich ging sogar so weit, auf die andere Straßenseite zu gehen, um den Chimpera, den Ausgeflippten, auszuweichen, die in der Nähe der Bahnhöfe herumlungerten. Meine Umsicht erstaunte und begeisterte mich selbst. Ich fühlte mich stark und heilig. Insgeheim jedoch sehnte ich eine Gelegenheit herbei, bei der ich die Unschuldigen retten konnte, indem ich die Schuldigen vernichtete. „Jetzt ist es soweit", sagte ich zu mir, als ich aufstand. „Hier sind Menschen in Gefahr. Wenn ich nicht schnell eingreife, wird wahrscheinlich jemand verletzt werden!" ...als pdf-Datei hier downloaden und weiterlesen.